Nach Angaben des GKV-Heilmittelinformationssystems (GKV-HIS) betrug der Anteil der Zertifikatspositionen am Heilmittelumsatz in der Physiotherapie ca. 44 %. im ersten Halbjahr 2017. Dieser Anteil var2ert in den Bundesländern teilweise deutlich, so betrug der Zertifikatsanteil am Umsatz in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern schon etwa 50 %.
Bundesweit stiegen die Ausgaben im Bereich der Physiotherapie von 3.176 Mrd € im Jahr 2004 um 46,47 % auf 4.652 Mrd € im Jahr 2016. Die tatsächliche Anzahl der Behandlungseinheiten pro 1.000 Versicherte stieg hingegen nur von 3.172 im Jahr 2004 um 14,15 % auf 3.621 in 2016. Signifikante Steigerungen verzeichneten jedoch auch die Zertifikatspositionen. Mit deutlichen dreistelligen Steigerungsraten für die Manuelle Lymphdrainage (45 und 60 Minuten), der Manuellen Therapie und Krankengymnastik ZNS bei Erwachsenen kam es zu einer Veränderung der Versorgungssituation. Die Umsatzsteigerungen liegen bei diesen Positionen teilweise über 200 % (GKV-HIS, Bundesberichte der Jahrgänge 2004 und 2016).
Auffällig ist auch, dass bei einer Untersuchung von Stellenanzeigen im Bereich der Physiotherapie schon im Jahr 2010 mehr als die Hälfte der Stellenausschreibungen eine Weiterbildung im Bereich der Zertifikatspositionen forderte (vgl. BMBF, S. 133, 2014).
Zum besseren Verständnis muss zunächst das generelle Ziel einer Ausbildung betrachtet werden. Für Berufe, die in die Zuständigkeit des Berufsbildungsgesetzes BBiG fallen, ist dieses Ziel klar definiert:
„Die Berufsausbildung hat die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten (berufliche Handlungsfähigkeit) in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln. Sie hat ferner den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen zu ermöglichen.“ (§ 1, Abs. 3 BBiG)
Auch das Ziel einer beruflichen Fortbildung wird hier definiert: „Die beruflicheFortbildung soll es ermöglichen, die berufliche Handlungsfähigkeit zu erhalten und anzupassen oder zu erweitern und beruflich aufzusteigen.“ (§ 1, Abs. 4, BBiG).
Die Physiotherapie ist kein anerkannter Ausbildungsberuf im Sinne des BBiG. Die berufliche Ausbildung wird durch das Gesetz über die Berufe in der Physiotherapie (Masseur- und Physiotherapeutengesetz – MPhG) geregelt. Als Ausbildungsziel wird hier genannt: „Die Ausbildung soll entsprechend der Aufgabenstellung des Berufs insbesondere dazu befähigen, durch Anwenden geeigneter Verfahren der Physiotherapie in Prävention, kurativer Medizin, Rehabilitation und im Kurwesen Hilfen zur Entwicklung, zum Erhalt oder zur Wiederherstellung aller Funktionen im somatischen und psychischen Bereich zu geben und bei nicht rückbildungsfähigen Körperbehinderungen Ersatzfunktionen zu schulen (Ausbildungsziel).“ (vgl. § 8 MPhG)
Die berufliche Handlungsfähigkeit wird hier nicht explizit genannt, kann aber nicht zuletzt aus Gründen der Gleichbehandlung mit anderen Ausbildungsberufen als konkretes Ziel interpretiert werden.
Betrachtet man die konkreten Anforderungen an den Beruf, so ist der Anteil der Behandlungen im Bereich der Zertifikatspositionen ausschlaggebend für die berufliche Handlungsfähigkeit.
Angesichts der unter Punkt 2 a genannten Zahlen muss festgestellt werden, dass die berufliche Handlungsfähigkeit im Bereich der Physiotherapie durch die Ausbildung nicht mehr gegeben ist.
Unterstellt man demnach die Notwendigkeit der Ausbildung im Bereich der Zertifikatspositionen um die berufliche Handlungsfähigkeit herzustellen, so kann dieser Bereich nicht als berufliche Fortbildung gewertet werden.
In der Regel wird bisher die Zertifikatsausbildung als Weiterbildung definiert.
Die Anforderungen an ein modernes Weiterbildungskonzept beschreibt das Bundesministerium für Bildung und Forschung wie folgt:„Damit unterstützt sie eine kontinuierliche Anpassung an Anforderungen, die sich immer rascher wandeln. Um dafür individuelle Potenziale und Optionen mit den wirtschaftlichen und sozialen Handlungsanforderungen in Einklang zu bringen, bedarf es einer Weiterbildungskultur, die sich an Nachhaltigkeit und Innovationsfähigkeit orientiert und die demographischen Entwicklungen berücksichtigt.“ (vgl. BMBF, 2018, S. 1)
In diesem Kontext muss diskutiert werden, ob die Weiterbildung in einer Behandlungsmethode, die zudem seit den 1980er Jahren sicher nur noch eine Methode unter vielen ist, tatsächlich an Nachhaltigkeit und Innovationsfähigkeit orientiert ist. Die demographische Entwicklung ist hierbei ein besonderer Gesichtspunkt, denn durch die zusätzliche Ausbildungsdauer und teilweise längeren Behandlungszeiten, kann der bestehende Fachkräftemangel durch die Zertifikatspositionen zusätzlich verschärft werden.
Ebenso ist eine berufliche Weiterbildung häufig mit einer neuen Berufsbezeichnung oder einem beruflichen Aufstieg verbunden (analog zur Fachkrankenpflege). Der Aspekt des beruflichen Aufstiegs fehlt im Bereich der Zertifikatspositionen völlig, da eine deutlich höhere Vergütung hier nicht erreicht werden kann.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung untersuchte die Berufsausbildung in den Gesundheitsfachberufen. Hier wird auf fehlende Ausbildungsinhalte wie evidenzbasiertem Arbeiten, Forschungskompetenz, die Interdisziplinarität, Klienten- und Teilhabeorientierung, Schulung der Reflexionsfähigkeit, Aspekte des physiotherapeutischen Prozesses, Gesprächsführung, psychosoziale Inhalte, Methoden der Leistungserfassung und des Qualitätsmanagements sowie Konzepte i. S. von „Lernen zu lernen“ hingewiesen (vgl. BMBF, S. 122, 2014).
Dies sind deutliche Hinweise auf Anforderungen für Änderungen der Berufsausbildungsinhalte in einem sich ständig aufgrund von wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn verändernden Handlungsfeldes auch in der Physiotherapie. Wenn solche Ausbildungsinhalte nicht vermittelt werden, so müsste dies im Rahmen einer Fortbildungsverpflichtung geschehen. Das Festhalten an deutlich veralteten Zertifikatspositionen dient ausdrücklich nicht der Qualitätssicherung, zumal die Evidenz für diese Positionen nicht gegeben ist.
Bei der Manuellen Lymphdrainage wird durch spezielle Handgriffe der Abfluss der Lymphflüssigkeit beschleunigt und an den Lymphknoten ein schnellerer Abfluss angeregt. Allerdings ist hier das Zusammenspiel mit einer Kompressionsbehandlung erforderlich. Die Lymphdrainage fördert den Abfluss der Lymphflüssigkeit und durch die Kompression wird ein Rückfluss in das Gewebe verhindert. Hier ergibt sich die Frage, ob eine alleinige Kompressionsbehandlung ähnliche Effekte erzielen kann wie eine Kombinationsbehandlung, oder ob es alternative Behandlungsmöglichkeiten zur Manuellen Lymphdrainage gibt. Möller, Oehlenberg und Piekartz untersuchten 2013 mit Hilfe eines systematischen Literaturreviews diese Fragestellung. Sie stellten fest, dass es eine gute Evidenz für die MLD bei der Behandlung von Lymphödemen in Folge einer Brustkrebserkrankung gibt. Für andere Diagnosen liegen keine schlüssigen Ergebnisse vor. Hier zeigte sich sogar, dass eine alleinige Kompressionsbehandlung, beispielsweise durch Kompressionsstrümpfe, gleichwertige Ergebnisse liefert, wie eine Behandlung mit MLD und Kompressionsbehandlung. Anhand einer Fallstudie, die sich mit einer anhaltenden Schwellung nach einer Meniskusoperation befasst, zeigen die Autoren zudem, dass die Behandlung mit MLD nur kurzfristige Effekte hat, die wenige Stunden anhalten. Eine veränderte Therapiestrategie, die auf einem gezielten funktionellen Aufbautraining und einer möglichst schnellen Aufnahme von Alltagsbelastungen beruhte, sorgte nach acht Behandlungseinheiten für eine fast völlige Beschwerdefreiheit, die es dem Patienten ermöglichte sein gewohntes Arbeits- und Freizeitverhalten wieder aufnehmen zu können (Möller, Oehlenberg, Piekartz, 2013, S. 1).
Eine Untersuchung des EBM-Review Centers der Universität Graz kam zu ähnlichen Ergebnissen. Bei Patienten, die einen Kniegelenksersatz (Totalendoprothese, TEP) erhielten, konnte innerhalb der ersten sechs Wochen eine Verbesserung der aktiven Beugefunktion des Kniegelenkes festgestellt werden. Allerdings hatte die MLD keinen Effekt auf eine Ödemausprägung, Ruheschmerz oder durch den Patienten selbst eingeschätzte Funktion oder Aktivität. Somit konnte keine klinische Relevanz für MLD im Vergleich zu Patienten festgestellt werden, die überhaupt keine Therapie bekamen. Für andere Arten von Schwellungen nach operativen Eingriffen an der oberen oder unteren Extremität konnten keine Studien nachgewiesen werden, wodurch auch in diesem Bereich eine fehlende Evidenz konstatiert werden muss (vgl. Horvarth et al., 2014, S. 58 f.).
Auch die Krankengymnastik zur Behandlung von zentralen Bewegungsstörungen, nach Vollendung des 18. Lebensjahres (KG-ZNS) ist nur unter Vorbehalt einer Weiterbildung in einem neurophysiologischen BehandlungsVereinte konzept zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abrechenbar. Dies sind die Konzepte nach Bobath und Vojta, die nach ihren Begründern benannt sind, oder die Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF). In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurotraumatologie und Klinische Neuropsychologie oder der Gesellschaft für Neurologie sind diese Methoden allerdings nicht mehr enthalten, da eine ausreichende Wirksamkeit nicht nachgewiesen werden konnte (vgl. Böhle et al., 2011, S. 2).
Für die Beurteilung der Wirksamkeit einer Therapie nach Schlaganfall können verschiedene Parameter betrachtet werden. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität (Health related Quality of Live, HRQoL) beschreibt die Möglichkeit der Teilhabe an Aktivitäten des täglichen Lebens, sowie die daraus resultierende Zufriedenheit einschließlich eines physischen und emotionalen Status. In Verbindung mit einem schlechten Outcome der Rehabilitationsphase und einen langsamen Heilungsprozess können nach Schlaganfällen in bis zu 40 % der Fälle Depressionen auftreten, wodurch das Vorhandensein einer Depression allein schon ein Parameter für den Therapieerfolg sein kann. Noch häufiger treten Schulterschmerzen auf, die bis zu 70 % der Patienten betreffen. Hafsteinsdottir et al. untersuchten die Wirksamkeit der Bobath Methode anhand dieser drei Parameter bei Patienten innerhalb eines Jahres nach einem Schlaganfall. Für die gesundheitsbezogene Lebensqualität und den Schulterschmerz konnten die Forscher keinen Effekt der Bobath Therapie feststellen. Lediglich für das Vorhandensein einer Depression von 30 % der Patienten der Interventionsgruppe gegenüber 43 % der Kontrollgruppe war ein Effekt festzustellen, der durch die Forscher jedoch als nicht signifikant eingestuft wurde. Sie sprachen die Empfehlung aus, die Anwendung der Bobath-Therapie in der Rehabilitation von Schlaganfallpatienten zu überdenken (vgl. Hafensteinsdottier, 2007, S. 627).
Die Gesellschaft für Neuropädiatrie und die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin gaben in einer Stellungnahme zu den Konzepten der Bobath und Vojta- Therapie zu bedenken, dass beide Konzepte auf entwicklungs-neurologischen Vorstellungen der 40er und 50er Jahre beruhen. Zudem müsse bezweifelt werden, dass eine Therapie, die vorwiegend auf Funktionsstörungen ausgerichtete ist, nachweisbar effektiv sein kann, denn der Beleg für die Wirksamkeit hätte bisher durch Evaluationsstudien nicht ausreichend erbracht werden können. Nach heutigem Wissen gelingt motorisches Lernen am besten durch ein forciertes wiederholtes Training (Forced Use-Konzept) und bei wiederholtem, eigenmotiviertem Üben von sinnvollen Aufgaben, welche auch speziell bei Kindern zu einer Verbesserung der Fertigkeiten und Fähigkeiten beitragen kann. Die Ergebnisse der „Forced Use-Therapie“, des forcierten Trainings der betroffenen Seite bei Hemiparese zeigen sowohl bei infantiler Zerebralparese als auch nach später erworbenen Läsionen, dass durch wiederholtes Üben von Bewegungsabläufen, insbesondere durch ständigen Einsatz der betroffenen Extremität im Alltag, eine bessere Reorganisation betroffener Hirnareale erreicht werden kann. Somit wäre das Forced Use-Konzept im Sinne der Effizienz den Konzepten nach Bobath und Vojta überlegen (vgl. Boltshauser, o.J., S. 16 ff).
Bengough, Verra und Elm gingen der Frage nach, welchen Nutzen die Manuelle Therapie in der Behandlung akuter unspezifischer Schmerzen im unteren Rücken hat und erfassten zwanzig Vergleichsstudien mit insgesamt 2.647 Teilnehmern ab 18 Jahren. Einschränkend wurde erwähnt, dass lumbaler Rückenschmerz für einen günstigen Verlauf bekannt ist und somit ein klinisch relevanter Unterschied in Studien schwer aufzuzeigen ist. Im Ergebnis zeigte sich doch, dass die Manuelle Therapie bei Schmerzen im unteren Rücken nicht wirksamer ist als andere Therapien. Zudem gaben die Autoren die Empfehlung, anstelle weiterer Untersuchungen zur Wirksamkeit der Manuellen Therapien eher die Untersuchung präventiver Maßnahmen zu fördern, da diese eine höhere Relevanz besitzen (vgl. Bengough, Elm, Verra, 2013, S. 1.073).
Bei der Behandlung von unspezifischen Nackenschmerzen gibt es keinen signifikanten Unterschied zwischen einer Intervention mit Manueller Therapie oder konventioneller Physiotherapie. Zu diesem Ergebnis kamen Groeneweg et al. durch die Untersuchung von 181 Patienten. Auch bei der Kosteneffizienz wurden keine relevanten Unterschiede festgestellt. Die Autoren können nicht ausschließen, dass die eigentlichen Therapieeffekte zu einem großen Teil unspezifische Ursachen haben, wodurch eine fast identische Wirkung zu erklären wäre. Die unspezifischen Ursachen wären ein natürlicher Heilungsverlauf, die Regression der Symptomatik zur Mitte, spezielle Erwartungen durch frühere Erfahrungen oder die Aufmerksamkeit oder Empathie durch den Behandler. Aufgrund der Ergebnisse sei es ebenso zu hinterfragen, ob die vielen unterschiedlichen Schulen und Strömungen in der Manuellen Therapie, die teilweise auch unterschiedliche Wirkmechanismen als theoretischen Hintergrund vermitteln, überhaupt eine Berechtigung haben (vgl. Groeneweg et al., 2017, S. 1 f).
Menke geht in seiner Zusammenfassung noch weiter. Auch wenn Anhänger der Manuellen Therapie immer noch hoffnungsvoll auf weitere Studien drängen, wären diese in Zukunft unnötig, denn alles, was bisher über die Wirksamkeit bekannt ist, reicht unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten aus, um die Wirksamkeit der Manuellen Therapie auszuschließen. Alle Behandlungsformen der Manuellen Therapie seien weniger wirksam als der natürliche Heilungsprozess und unspezifische Faktoren (vgl. Menke, 2014, S. 468 ff).
Die häufig angeführte Argumentation der Qualitätssicherung bei der Diskussion um die Zertifikatspositionen ist somit nicht schlüssig (vgl. dazu auch Lamprecht, S. 14 f, 2015).
Schon am 24.07.2003 urteilte das Bundessozialgericht, dass die durch staatliche Prüfung erlangte Zulassung zur Physiotherapie alle Leistungen beinhaltet, die zum Inhalt der Physiotherapie im Sinne des Berufsgesetzes gehören. Ebenso dürfe eine Zulassungsbeschränkung durch die GKV nicht das Recht auf Berufsfreiheit (Art. 12 GG) einschränken.
Im Urteil des BSG (AZ B3 KR9/09) von 2010 wird wörtlich darauf hingewiesen:„Der Beklagte hält diesen Einwand schon deshalb für unzutreffend, weil die Zertifikatspositionen in ihrer Gesamtheit nur einen Anteil von 20 – 25 % aller in der täglichen Praxis nachgefragten physiotherapeutischen Leistungen ausmachten. Sollte diese Behauptung des Beklagten zutreffen, könnte in der Tat von einer „Aushöhlung“ der – berufsrechtlich uneingeschränkten – Zulassung als Physiotherapeut (§ 124 SGB V) keine Rede sein. Diese Frage kann aber offen bleiben.“Deutlich wird hier, dass aktuell der höhere
Anteil an den Leistungen diskutiert werden muss.
Eine Einstufung der Zertifikatsbehandlungen als Weiterbildung muss in Frage gestellt werden, da die Weiterbildung einen beruflichen Aufstieg, oftmals in Verbindung mit einer neuen Berufsbezeichnung, darstellt. Auch die Anforderungen an eine berufliche Weiterbildung unter modernen Gesichtspunkten müssen bei reinen Behandlungsmethoden aus den 1980er Jahren hinterfragt werden.
Auch das Argument der Spezialisierung für eine bestimmte Fachrichtung greift zu kurz, da die verpflichtende Beschränkung auf wenige Methoden, die zudem in der Wirksamkeit nicht belegt sind, den Sinn einer beruflichen Spezialisierung konterkariert und die Entwicklung moderner Behandlungsmethoden unzulässig behindert.
Ebenso stellt das Zertifikatssystem mit dem heutigen hohen Umsatzanteil der GKV-Leistungen ein erhebliches organisatorisches Problem in der ambulanten Versorgung dar und verstärkt die Auswirkungen des Fachkräftemangels (vgl. Uhlhorn, 2018, S. 1).
Schwerwiegender ist jedoch die Tatsache, dass der Anteil am Leistungsumfang von etwa 44 % am Bruttoumsatz im Bereich der Physiotherapie und die Erfordernis von Abschlüssen in Zertifikatspositionen bei Stellenausschreibungen einen klaren Hinweis auf die Aushöhlung der Ausbildungsziele in der Physiotherapie darstellen. Aufgrund dessen muss festgestellt werden, dass die Berufsausbildung nicht mehr zur Herstellung der beruflichen Handlungsfähigkeit ausreichend ist. Eine Einschränkung der Grundrechte nach Art. 12 GG muss unterstellt werden und kann auch nicht mit der Begründung einer Qualitätssicherung abgedeckt werden, da die Versorgung im System der Zertifikatspositionen dem Stand der 1980er Jahre entspricht und nicht den anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis widerspiegelt.
In der Zusammenfassung der Punkte muss zusätzlich eine Ungleichbehandlung mit den anderen Berufen des Heilmittelbereiches konstatiert werden, da das System der Zertifikate ausschließlich in der Physiotherapie Anwendung findet.
Zudem zeigte jüngst das Modellvorhaben zur Blankoverordnung zwischen dem VPT und der IKK in Berlin und Brandenburg, dass bei einer freien Wahl des Heilmittels signifikant häufiger Zertifikatsleistungen abgegeben werden, wodurch die Kosten und die Behandlungsdauer deutlich steigen (vgl. Räbiger, 2017, S. 12 f).
Das Festhalten an der bisherigen Praxis ist aus unserer Sicht mit dem Grundgesetz nicht vereinbar und widerspricht ebenso dem Wirtschaftlichkeitsgebot nach SGB V.
Deshalb fordern wir die Abschaffung der Zertifikatspositionen und die Einführung einer einheitlichen Abrechnungsposition Physiotherapie. Für die Berufsgruppe der Masseure und medizinischen Bademeister wäre dies analog die Forderung nach einer Abrechnungsposition Physikalische Therapie. Diesen Abrechnungspositionen sollte ein einheitlicher Eckpreis pro Behandlungsminute zu Grunde liegen, der neben der therapeutischen Leistung auch bürokratische Kosten und Investitionen mit berücksichtigt. So wäre eine Verordnung in unterschiedlichen Zeiteinheiten möglich um auch älteren und multimorbiden Patienten eine ausreichende Therapiezeit einräumen zu können.
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