Mängel im Ausbildungssystem

Die Inhalte sind teilweise nicht mehr zeitgemäß, uneinheitlich und unvollständig – trotz staatlich geprüftem Berufsabschluss kann zum Beispiel ein Physiotherapeut ca. 60 – 80 % der erlernten Techniken nicht abrechnen. Während deutschlandweit ein Lehrling Einkommen erhält, muss ein Heilmittelerbringer in der Regel Schulgeld entrichten und für anschließende Pflicht-/Fortbildungen Urlaub und Geld aufwenden. Für ein Verbot der Zahlung eines Schulgeldes kann die Neuregelung in § 20 Abs. 3 Nr. 1 NotSanG vorbildhaft auch für andere Heilberufe angesehen werden. Aus Gründen der Gleichbehandlung muss die Schaffung eines Anspruchs auf eine Ausbildungsvergütung diskutiert werden. Die Ausbildung zu einem Hilfsberuf entspricht nicht mehr der heutigen Stellung des Heilmittelerbringers im Gesundheitssystem.

Folge: zunehmender Mangel an therapeutischen Fachkräften, der Versorgungsauftrag ist in manchen Regionen gefährdet.

Mängel im Zulassungssystem für Praxisräumlichkeiten und Ausstattung

Die starren Vorgaben zu Praxisausstattung und Räumlichkeiten passen nicht mehr zu den heutigen Anforderungen. So entspricht zum Beispiel die Ausstattung einer Physiotherapiepraxis eher einer Physikalischen Therapieeinrichtung, obwohl physikalische Maßnahmen nicht mehr zeitgemäß und deutlich rückläufig sind. Es fehlen die für Praxisinhaber interessanten Spezialisierungsmöglichkeiten. So ist etwa eine reine Kinderergotherapiepraxis mit angepassten, kindgerechten Räumlichkeiten nicht zulässig. Auch ist zu fragen, warum etwa eine Sportphysiotherapiepraxis, die bereits über einen großen Gerätepark verfügt, zusätzlich noch einen 20 m² großen Raum vorhalten muss. Räume für Ergotherapiebehandlungen müssen mindestens 9 m² groß sein. Dies ist für viele Behandlungsarten völlig ausreichend. Für jede gleichzeitig tätige Fachkraft ist jedoch ein Therapieraum von mindestens 12 m² vorzuhalten, was sachlich nicht notwendig ist und daher die ohnehin angespannte wirtschaftliche Situation unnötig verschärft. Zu bedenken ist auch, dass heute in der Regel ein Großteil der Behandlungen als Hausbesuche geleistet wird.

Bürokratischer Aufwand

Die Tätigkeit ist aufgrund unzähliger Vorschriften, die kaum in der Gesamtheit noch eingehalten werden können, überreguliert. Gleichzeitig werden Verordnungen bei der Abrechnung akribisch nach formalen Fehlern abgesucht, um die Bezahlung zu vermeiden. Dies verursacht neben dem finanziellen Verlust für Heilmittelerbringer nach erbrachter Leistung einen extremen und medizinisch unnötigen bürokratischen Aufwand auf Seiten der Therapeuten, Ärzte und Kassen.

Vergütung

Seit dem Jahre 2000 lag die Anhebung der Heilmittelpreise mindestens 30 % unter der allgemeinen Einkommensentwicklung. Die Tätigkeit des Physiotherapeuten gehört seit Jahren mit einem durchschnittlichen Bruttogehalt von 2.055 € im Monat zu den 20 schlechtbezahltesten Berufen in Deutschland (Gehaltsvergleich.com 2 / 2017). Der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst in Deutschland betrug in 2015 jedoch 3.612 € (statistisches Bundesamt). Erschwerend kommt hinzu, dass Praxisinhaber und Therapeuten, die in teuren Regionen bzw. Ballungsgebieten, wirtschaften müssen, zum Teil deutlich höhere Kosten für Mieten und Gehälter haben und dadurch finanziell kaum noch in der Lage sind, mit der zur Zeit bestehenden Vergütung eine Praxis wirtschaftlich führen zu können. Es gibt keinen sachlichen Grund, warum Beschäftige in sozialen Berufen niedriger entlohnt werden sollen, als Beschäftige etwa mit rein verwaltender Tätigkeit. Es hat sich hier in den letzten 20 Jahren ein deutliches Ungleichgewicht zu Ungunsten der sozialen Berufe aufgebaut, dieser Umstand ist nicht länger hinnehmbar – zum Vergleich: Sozialversicherungsfachangestellte verdienen im Durchschnitt 3.203 € (Gehaltsvergleich.com), also 50 % mehr als Physiotherapeuten.

Informationsvernetzung mit Ärzten und anderen Leistungserbringern

Im Krankenhaus dient die tägliche Visite dem wichtigen Informationsaustausch zwischen Ärzten, Pflegern und Therapeuten. Diese Kommunikationsform fehlt jedoch im ambulanten Bereich und es gibt, mit Ausnahme des nicht bezahlten Therapieberichtes, keinen relevanten Daten- und Informationsaustausch.

Mitspracherechte / G-BA

Heilmittelerbringer haben keine Mitspracherechte. Auch Dinge, die zentrale Interessen einer Heilmittelpraxis betreffen wie etwa der Heilmittelkatalog, werden ohne rechtliche Einflussmöglichkeiten über die Köpfe der Therapeuten hinweg entschieden. Mitspracherechte würden sich sicherlich auch auf die Qualität der Inhalte auswirken.

Richtgrößen / Regress

Die heutigen Richtgrößen sind das Ergebnis einer jahrelangen Verhandlungsentwicklung. Richtgrößen steigen jährlich nicht zuletzt aufgrund von Ärztemangel und gleichzeitigem Bedarfsanstieg u.a. wegen der älter werdenden Bevölkerung. Der beim Gemeinsamen Bundesausschuss entwickelte Heilmittelkatalog gibt vor, dass jedem Versicherten mit relevanter medizinischer Indikation im Regelfall zwischen 6 und 60 Behandlungen zustehen. Laut aktuellem Krankenkassenreport für Heilmittel erhalten jedoch nur zwei von drei Patienten überhaupt eine Heilmittelverordnung (Barmer GEK Report 2016) und insgesamt erhalten Patienten durchschnittlich 7 Behandlungen (AOK-Heilmittelreport 2016). Viele Patienten berichten, dass ihnen Heilmittel aufgrund des Budgets nicht verordnet wurden. Ein Versicherter mit medizinischer Indikation sollte eine Heilbehandlung überall in Deutschland erhalten können und nicht in Abhängigkeit von lokalen Budgets und Richtgrößen.

Heilmittel nur ein Kostenfaktor?

In den Reports der GKV werden Heilmittel vor allem als Kostenfaktor gesehen, der stärker steigt als viele andere Bereiche. Welche Einsparungen sich aber andernorts ergeben, werden nicht quantifiziert. Es finden keine Kosten-Nutzenberechnungen statt. Beispiele: Viele Patienten können nur deswegen früher aus dem Krankenhaus entlassen werden, weil sie anschließend von ambulant tätigen Therapeuten weiterbehandelt werden, was insgesamt zu Kosteneinsparungen führt. Senioren werden später pflegebedürftig, Menschen kehren schneller wieder in den Beruf zurück oder werden erst gar nicht arbeitsunfähig. Therapie vor möglichen chirurgischen Eingriffen hat schon häufig kostenintensive Operationen mit eventuell auftretenden teils langjährigen Komplikationen und Anschlussheilbehandlungen erspart. Vieles können Therapeuten auch kostengünstiger leisten.

Umrisse eines zukunftsweisenden Gesamtkonzeptes

Neuordnung der Ausbildung

Die Erhebung eines Schulgeldes in der aktuellen Höhe verstößt gegen das Sonderungsverbot nach Art. 7 GG und muss daher umgehend abgeschafft werden. Stattdessen sollte im Sinne einer Gleichbehandlung mit anderen Gesundheitsfachberufen gemäß Art. 3 GG eine Ausbildungsvergütung angestrebt werden.

Das Ausbildungscurriculum muss an die aktuellen Anforderungen der Berufe angepasst werden und insbesondere dem Schwerpunkt in der ambulanten Versorgung entsprechen. Auch im Hinblick auf die neu zu erprobenden Zugangswege Blankoverordnung und Direktzugang ist dieser Schritt notwendig, um ein einheitliches Versorgungsniveau zu gewährleisten und den Weg für transparente und einheitliche Minutenpreise in der Vergütung zu ebnen.

Der Ausbildungs- und Prüfungsumfang muss dem eigenständigen Berufsbild entsprechen und fachlich auf den Direktzugang vorbereiten. Ziel muss es sein, durch eine qualitativ hochwertige Ausbildung das Konstrukt des „sektoralen Heilpraktikers“ im Bereich der Heilmittel zu ersetzen und damit überflüssig zu machen.

Eine Aufnahme der Osteopathie mit geringem Stundenumfang in die Ausbildung zur Physiotherapie entspricht nicht dem modernen und international anerkannten Berufsbild und wird ausdrücklich abgelehnt.

Bei Pflichtfortbildungen sollte entweder eine Erstattung der Kosten erfolgen, oder diese werden pauschal in den Heilmittelpreisen einkalkuliert.

Akademisierung

Die Akademisierung der Heilmittelberufe sollte das Ziel der Bemühungen um eine Professionalisierung der Berufe sein. Hier gilt es zunächst die vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen geforderte Quote von 20 % zu erreichen. Langfristig kann nur eine Vollakademisierung den Anschluss an internationale Entwicklungen sicherstellen. Hierzu muss eine praktikable Nachqualifizierung von fachschulisch ausgebildeten Heilmittelerbringern angeboten werden. Die Förderung von geringer qualifizierten und schlechter bezahlten Hilfstherapeuten wird ausdrücklich abgelehnt.

Einführung der Blankoverordnung

Diese sollte im Wesentlichen nur Patientendaten und ICD10-Code enthalten, alles Weitere sollte sich aus dem Heilmittelkatalog ergeben (zulässige Heilmittel; Einführung einer Verordnungsgültigkeitsdauer evtl. unter Angaben von Gründen auch Erweiterungsdauer, anstatt unflexibler Vorgabe von Behandlungsbeginn/-Frequenz; zeitliche Therapiemindest-/- höchstdauer, möglich Therapieziele). Eine Einflussnahme durch den behandelnden Arzt muss natürlich jederzeit möglich sein.

Direktzugang

Die Qualitätssicherung für den Direktzugang erfolgt durch die Anpassung der Ausbildung bzw. durch den Nachweis spezieller Fortbildungen (Diagnostik, Screening). Bereits heute ist im Bereich der Logopädie und Ergotherapie eine Befunderhebung durch den Therapeuten zu Beginn einer Behandlung Standard. Die derzeit erprobte und getätigte Praxis zeigt die Qualität der Heilmittelerbringer, denn sie sind schon heute im Rahmen der ärztlichen Verordnung auch diagnostisch tätig.

Als Voraussetzungen für eine Direktzugangspraxis werden ein Nachweis von praktischen Berufsjahren durch den Inhaber bzw. durch die fachliche Leitung und eine entsprechende Qualifizierung empfohlen.

Abschaffung von Richtgrößen / Budget und Regressen auf Heilmittel

Die Wirtschaftlichkeit wird über den Heilmittelkatalog und die Einflussmöglichkeit des Arztes sichergestellt. Heilmittelbudgets können lediglich eine grobe Orientierung im Hinblick auf die zu erwartenden Ausgaben darstellen. Das realisierte Verordnungsvolumen muss sich jedoch aus den tatsächlichen Erkrankungen im Rahmen der Vorgaben des Heilmittelkataloges ergeben.

Regress bzw. Schadenersatz sollte nur dann als Maßnahme greifen, wenn der Tatbestand der Veruntreuung öffentlicher Gelder erfüllt ist, analog zur Vorgehensweise in der öffentlichen Verwaltung.

Faire und leistungsgerechte Vergütung

Es wird ein einheitlicher Eckpreis (für alle Heilmittel und Bundesländer gleich) vorgeschlagen als Vergütung pro Behandlungsminute am Patienten. Dieser Preis wird mit der Behandlungsdauer multipliziert. Nach Bedarf werden für einzelne Heilmittel sachlich begründbare Zu- und Abschläge festgelegt (z. B. Zu- / Abschläge für Heilmittel mit kürzerer / längerer Behandlungszeit, bei Zusatzaufwand etc.)

Der Preis muss eine Vergütung aller therapeutischen und bürokratischen Leistungen beinhalten, auch z. B. den Zeitaufwand für Berichte, Porto, Telefonate, Änderungen, Korrekturen, Pflichtfortbildungen etc.

Dieser einheitliche Minuteneckpreis wäre nun jährlich entweder auf Basis „echter“ Verhandlungen mit wirksamen Druckmitteln anzupassen, oder es findet eine Koppelung an Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst statt, das heißt auch: dauerhafter Wegfall der Grundlohnsummenbindung. Damit auch in teuren Städten und Regionen eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Heilmitteln sichergestellt werden kann, erscheinen regionale Zuschläge notwendig. Generell darf eine Vergütung von Heilmittelerbringern nicht unter das jeweilige Niveau von Sozialversicherungsfachangestellten fallen. Die bisherige Praxis stellt eine Diskriminierung der therapeutischen Tätigkeit dar!

Eine 100-prozentige Vergütungssicherheit muss gewährleistet werden, solange die Vorgaben des Heilmittelkataloges eingehalten wurden. Sollte sich bei der Abrechnung eines Rezeptes herausstellen, dass es formal nicht den Heilmittelrichtlinien entspricht, muss grundsätzlich eine nachträgliche Änderung bzw. Genehmigung durch den Arzt möglich sein.

Neuregelung der Zulassungsrichtlinien

Es würde sofort erheblichen Bürokratieaufwand ohne Nachteile für die medizinischen Versorgung eingespart, wenn es nur eine einzige Zulassungs- und Verwaltungsstelle für alle Kassen gäbe – heute sind es bis zu 5 Stellen, die über Änderungen informiert werden müssen, bzw. Genehmigungen erteilen müssen. Die Ausstattungs- und Räumlichkeitsvoraussetzungen sollten überarbeitet und an die Entwicklung der Berufe angepasst werden. Es sollte die Möglichkeit zur Spezialisierung geben (z. B. Betrieb als Kinderergotherapie- oder Sportphysiotherapiepraxis). Die Raumerfordernisse und Ausstattungsanforderungen sollten im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit und spezialisierte Angebotsentfaltung liberalisiert und dereguliert werden. Es ist vor allem der Wettbewerb der Heilmittelerbringer untereinander, der zu einem hohen Niveau der Leistungsangebote führt.

Die Ergänzung von Praxisangeboten um Nicht-GKV-Leistungen sollte erleichtert bzw. ermöglicht werden (z. B. Zusatzangebote zeitgleicher präventiver / rehabilitativer Dienstleistungen als Privatleistung), ebenso Kooperationsmöglichkeit in den Praxisräumen mit anderen medizinischen Fachrichtungen (wie Ernährungsberater, Psychotherapeut, Heilpraktiker).

Integration in eine Telematik Infrastruktur

Es ist wichtig, die Heilmittelerbringer in die gerade entstehende TelematikInfrastruktur von vorne herein einzubinden. Dies betrifft den Austausch von Verwaltungsdaten; aber auch eine „digitale Visite“ sollte ermöglicht werden, in dem für die Therapie relevante Daten zwischen Arzt, Krankenhaus, Pflegedienst, Therapeuten und Patient ausgetauscht werden (elektronische Patientenakte).

Berufsrecht

Das derzeitige Recht der Heilberufe ist unklar, unübersichtlich, teilweise widersprüchlich und veraltet. Insbesondere eine moderne Definition des Begriffs der „Heilkunde“ als Abgrenzung zum veralteten Heilpraktikergesetz von 1939, eine klare Regelungen zu den Voraussetzungen der selbstständigen Ausübung von Heilkunde, sowie allgemeine Vorgaben für die Inhalte und die Gestaltung der Ausbildungs- und der Prüfungsordnungen – auch in Richtung einer hochschulischen Ausbildung, könnten durch ein modernes Heilberufsgesetz konkretisiert werden.

G-BA

Ein Mitbestimmungsrecht praktisch erfahrener Heilmittelerbringer in Bezug auf Heilmittel im G-BA ist nicht zuletzt im Sinne der demokratischen Legitimierung zwingend erforderlich.